PLEASE HELP YOURSELF, 2021
Kreidespray
28,5 m x 1,6 m
Während die englische Redewendung “Please help yourself!” eine unmissverständliche Aufforderung ist, sich an etwas zu bedienen, in der Regel an etwas zu Essen oder zu Trinken, lässt die Übersetzung ins Deutsche verschiedene Interpretationen zu. Unter Umständen ist zunächst der Subtext des Sich-sich-Selbst-Ermächtigens erkennbar, bevor der Gedanke an die Umsicht und Hilfsbereitschaft gegenüber (gesellschaftlich) Benachteiligten greift.
„Bitte hilf dir selbst!“ könnte ganz unauffällig im Regal der Selbsthilfebücher stehen. Doch ist Achtsamkeit die Lösung für alles, oder Keimzelle einer weiteren milliardenschweren Industrie für Bücher, Online-Teachings, -Coachings und Magazine? Sind wir selbst schuld daran, dass wir uns gestresst fühlen, weil wir uns ablenken, non-stop auf unsere Screens und Displays starren und es nicht schaffen, aufmerksam, also “aware” uns und anderen gegenüber zu sein und im Hier und Jetzt zu leben? Und: muss ich da wirklich alleine durch? Oder hilft mir irgendein Leitsystem oder Leitfaden weiter?
Self-care ist und bleibt ein gut gemeinter Ansatzpunkt, äußere Einflüsse und soziale Umstände werden dabei allerdings häufig außer Acht gelassen. Nicht jede Person ist in der privilegierten Lage, sich durch den Konsum von (Selbst-)Hilfeprodukten auch wirklich selbst zu helfen. Es steht also zu vermuten, dass dieser Markt vielen, wenn nicht gar den meisten Menschen unzugänglich bleibt.
Jonas Leichsenrings Arbeit PLEASE HELP YOURSELF stellt neben der Aufforderung, seiner - mitunter unterdrückten - Stimme Gehör zu verschaffen - die Frage, wer jenen unterdrückten und diskriminierten Menschen in unserer Gesellschaft hilft, wenn sie nicht in der Lage sind, sich laut und wahrnehmbar zu äußern.
Der direkte (Orts-)Bezug zu dem Informationsstand des Galeriefests - floating im Juni 2021 in unmittelbarer Nähe zu Leichsenrings subversiver, bitter-ironischer Phrase PLEASE HELP YOURSELF (to some information) mag erst nach mehrfacher Lektüre ins Auge fallen. Auf Grund der baulichen Beschaffenheit der Ausstellungsfläche Weinberg sind mobilitätseingeschränkte Personen auf Hilfe angewiesen…
Mit Kreidespray in der Schrifttype DIN und einer Länge von etwa dreißig Metern auf den Rasen einer der Weinbergterrassen flüchtig und in intervenierendem Charakter aufgebracht, entzieht sich Leichsenrings Arbeit PLEASE HELP YOURSELF, trotz ihrer großen Sichtbarkeit und dem buchstäblichen Imperativ, der kategorischen Zuordnung oder Engführung hin zu nur einer Form der Lesbarkeit.
Diese Sichtbarmachung einer ambivalenten Aussage und ihre Vergänglichkeit an einem temporär gewählten Ort markieren bereits die zweite Arbeit des Künstlers in Form von Kreidelettern. Sie veranlasst die Besucher:innen dazu, einen Schritt zurück zu treten, sich möglicherweise auch eine Ebene hinauf zu begeben und den vermeintlichen Slogan zu reflektieren.

SASKIA APRIL KLUGE, FLORIAN BODE & JONAS LEICHSENRING

Foto: Christoph Neugebauer

Prototyp, 2020
Stahl, Lack
184 cm, 79,5 cm, 26,5 cm
Wir leben in einer Gesellschaft, die maßgeblich durch die Industrialisierung beeinflusst ist. Die Standardisierungen in allen Bereichen formen unsere alltäglichen Objekte, infrastrukturelle Prozesse und unser Denken. Häufig stellen wir diese Maßstäbe nicht einmal in Frage, weil wir uns schon so sehr daran gewöhnt haben. Jonas Leichsenrings Arbeit Prototyp besteht aus insgesamt 12 unterschiedlich langen Linealen. Zwei der Lineale zeigen seine Körper- und Fußlänge, sie lassen sich als Selbstporträt des Künstlers verstehen. Die anderen Lineale haben die Längen verschiedener historischer Maßeinheiten, wie Yard oder Elle.
Die imperialen Maßeinheiten beziehen sich schon in ihrer Sprache auf Körperteile, deren Maße man festgelegt hat. Im Jahr 1101 führt Heinrich I. von England das Yard, der Abstand von seiner Nase bis zum Daumen seines ausgestreckten Armes, und das Inch, die Breite seines Daumens, ein. Schon 300 Jahre zuvor vereinheitlicht Karl der Große das Messwesen durch die Einheit Fuß - seine eigene Schuhgröße. Zahlreiche willkürliche Änderungen durch die mittelalterlichen Herrscher bewirken in der Folgezeit, dass jedes Reich seine eigenen Maße hat. Auch im Königreich England dauert es weitere 400 Jahre bis sich ein verbindlich gültiges Maß durchsetzt. So sind die Einheiten entstanden, die noch heute maßgebend für uns sind. Festgelegt von Männern, als Zeichen ihrer Macht, an den eigenen Körperteilen. Daher ist es auch nicht überraschend, dass das „Idealbild der menschlichen Schönheit“, da Vincis Vitruvianischer Mensch von 1490, einen männlichen Körper zeigt.
Jonas Leichsenrings Arbeit scheint sich perfekt einzufügen in eine Zeit, in der das Patriachart stärker denn je ins Wanken gekommen ist und in der „der Mann als Standard“ nicht ohne Weiteres hingenommen wird. Mit Prototyp werden wir daran erinnert, dass es sich nach wie vor lohnt schon bestehende Strukturen zu hinterfragen und, dass die Abweichung vom Standard absolut nichts Negatives ist.
Text: Saskia April Kluge
Schattenmann, 2018
Kreidespray
11 m x 5 m
Infrastruktur ist das Grundgerüst für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Funktionierende Systeme sind angewiesen auf Menschen, welche Aufgaben und Arbeiten erfüllen, die oft in Vergessenheit geraten. „Schattenmänner“ sind ständig in unserer Umgebung. Amazon Mechanical Turk ist ein ein Beispiel für diese „microtasks“, welche das Fundament von Software, wie z.B. Künstliche Intelligenz schaffen. Im Sport ist es der Platzwart, der sich um den Rasen kümmert und ihn bewässert. Mit Kreidespray teilt er das Spielfeld in verschiedene Zonen ein. Ohne diesen Aufwand könnte ein Fussballspiel nicht offiziell stattfinden. Weil diese Handlungen oft im Verborgenen geschehen, nehmen wir sie als selbstverständlich wahr und schenken den „Schattenmännern“ selten Anerkennung.
Das Zitat „This is pretty much exactly what I do but everything changes overnight.“ soll bedeuten, dass nichts permanent besteht und sich die Umstände für die Infrastruktur wandeln. Kein Tag bei der Arbeit ist gleich, auch nicht für den „Schattenmann“.
Haben wir das Recht, alles als selbstverständlich zu empfinden und das Gefühl zu haben, wir leben in einer automatisierten, fast autonomen Welt? Was würde sich ohne diese „Schattenmänner“ verändern? Werden Sie in Zukunft ersetzt oder wird sogar ihre Unverzichtbarkeit in Frage gestellt?
Long Drive, 2018
Videoloops, Golf Equipment
Ausstellungsansicht
Im Golfsport gibt es einen Wettkampf der sich Long Drive Contest nennt.Die SpielerInnen schlagen von einer Markierung den Ball so weit sie können. Nach einigen Runden steht fest, wessen Ball die größte Distanz zurückgelegt hat und somit wer gewonnen hat. Long Drive Contests reduzieren das klassische Golfspiel allein auf diesen einen Schlag. Dementsprechend sehen diese Wettkämpfe weniger nach einem schönen Tag auf dem Golfplatz aus, als viel mehr nach einem Spektakel in Flutlicht mit viel Geschrei und Jubel, starken Armen.
Die klassichen Bilder des nachdenkenden Spielers, der den richtigen Schläger für die jeweilige Lage des Balles auf dem Green aussucht, die Ausrichtung des Spielers vorm dem Schlag, die Stille des Publikums, ein weißer Golfball vor blauem Himmel, die Spannung, wer am Ende weniger Schläge zum Einlochen brauchte usw. fallen weg. Was bleibt ist ein Sport, der statisch wirkt. In der Ausstellung Long Drive zeigen drei Videoloops archetypische Bilder des Golfens aus der Kameraperspektive.
Why Always Me?, 2017
PVC, Vlies, Kette, Kordel, Nieten, Styropor
180 cm x 30 cm x 30 cm
„Don't Show Again“ 
REAKTOR  WIEN
Am 23. Oktober 2011 in der 22. Minute schießt der Fussballer Mario Balotelli das 1:0 gegen den Stadtrivalen Manchester United. Doch Balotelli jubelt nicht, er erstarrt, dreht sich um und zieht sich sein Trikot über den Kopf. Auf dem T-Shirt darunter steht: „Why always me“ - warum immer ich? Zwei Nächte vor dem historischen 6:1-Sieg gegen ManU war in seinem Haus ein Feuer ausgebrochen. Um ein Uhr nachts hatte Feuerwerk einen Brand verursacht - in seinem Badezimmer. Immer wieder fällt der Sohn ghanaischer Einwanderer negativ auf. Der italienische Stürmer ist bekannt für seine Eskapaden auf und neben dem Platz. Doch hinter dem Kindskopf steckt ein junger Mann, der nicht damit umgehen kann, dass er sein ganzes Leben gehasst wurde. Viele Anhänger verschmähen ihn trotz guter Leistung vor allem wegen seiner Hautfarbe. Dazu kommt sein impulsives Verhalten beim Training und im Privatleben. Den Hass hat Mario Balotelli nie verstanden. Im Internet finden sich tausende von Bildern, so genannte Memes, die in Collagen und GIF-Animationen in mitunter stark rassistischer Weise sich über Balotelli und seine Posen lustig machen.
Wie mancher Musikstar versteckt und schützt er sich hinter offen zur Schau getragener Arroganz und unverstandenen Aktionen, die noch mehr Aufmerksamkeit erzeugen. In seiner gespielten stereotypen Übermännlichkeit nimmt Balotelli es mit seinen Gegnern und den Fans auf, es ist das einzige was in schützt.
Peek-a-boo, 2017
9 Pigment Prints
Ketten, Haken
100 cm x 70 cm
Doppelkopfhörnchen, 2017
Pigment Druck, Stahlrahmen
127 x 91 cm
Männer trinken Bier, essen  Fleisch, gucken Fußball und zeigen keine Gefühle. Das Konzept von Männlichkeit
scheint darin zu liegen, alles, was weiblich konnotiert ist, abzulehnen. Die Identität von Männern in patriarchalischen Systemen, bildet sich in den von der Geschlechterordnung vorgesehenen Handlungsfeldern, wie Ökonomie, Politik, Sport, Militär, Vereinen und Freundeskreisen, in denen Männer unter sich sind. Ein zentrales Mittel der Sozialisation ist der Wettbewerb. Die Strukturen sind kompetitiv und homosozial, das „Partner-Gegner“-Verhältnis vergemeinschaftet, wodurch gleichzeitig eine Hierarchie untereinander entsteht.
„Toxische Männlichkeit“ feminisiert Probleme wie Depressionen, Essstörungen und Bodyshaming. Durch das Verschweigen und die fehlende Unterstützung werden Männer zu emotional isolierten Analphabeten und in eine Art „Rapunzel-Dasein“ gezwungen. Jungen muss beigebracht werden, ihre Gefühle zu äußern, ohne die Angst zu haben, dass ihnen ihre Probleme abgesprochen werden.
Wieso halten wir an veralteten und starren Männlichkeitsbildern fest, obwohl es uns ohne diese doch viel besser ginge? Wieso werden diese Vorstellungen so selten hinterfragt? Warum müssen Männer stark sein? Wann ist ein Mann ein Mann?
Boys don‘t cry, 2017
Eis, Stahl
25 cm
„Boys don‘t cry“, zu deutsch „Jungs weinen nicht“ symbolisiert den langsamen Verfall der vorherrschenden Geschlechterbilder, die von den Eltern, dem Umfeld und durch Medien geprägt und konstruiert wurden. Heranwachsenden Männern fehlen Identitätsbilder, an denen sie sich orientieren können und welche ihnen zeigen, dass man nicht immer stark muss, sondern dass es natürlich ist Schwäche einzugestehen und eben auch erlaubt ist zu weinen.
Die Eisskulptur ist der Abguss eines Dildos, die scheinbar pure Männlichkeit. Mit Beginn der Installiation an der Wand, beginnt der Phallus an zu schmelzen. Die Tropfen aus Wasser bilden eine Pfütze auf dem Boden. Einige  Spritzer landen an der Wand. Nach einer Weile entsteht ein orange-farbener Fleck, vielleicht Schimmel, auf der Tapete.
Big Labels Small Prices, 2017
Lacoste Poloshirt
Ein Lacoste Polo T-shirt kostet 100 Euro. TK Maxx verkauft große Marken für kleine Preise. Das Sonderposten Lacoste- Polo kostet dort 49,99 Euro. Nach dem jemand in der Filiale das Lacoste--Krokodil von der Brust des Hemdes gerissen hat wurde es weiter auf 17 Euro reduziert. Trotz Nachfrage blieb es bei dem Preis. Was ist der Wert eines Kleidungsstückes? Wie bewerten wir Marken in Zeiten von immer billigeren Ramschläden und globalisierter Massenproduktion?
Google Comfort, 2017
Luftmatratze, Bettbezug
200 cm x 160 cm
"Make it fit"
 Panke Gallery Berlin

Die Luftmatratze zeigt alle Bilder aus der Google-Suche #makeitfit auf einem Spannbetttuch komprimiert. Durch die Verwendung des Photoshop Werkzeugs „inhaltsbasierte Skalierung“, das die große Datenmenge nicht verarbeiten kann, sind Bilder zerstört, in Pixel zerfetzt oder nur teilweise sichtbar. Es spiegelt die Art und Weise wieder, wie wir selbst ständig eingebettet Informationen empfangen und weitergeben und so am Leben anderer teilnehmen. Die Matratze, die sich mit der Schnelligkeit von Masseninformationen in einer modernen hypermobilen Kunstshow befasst, lädt Sie ein, sich hinzusetzen oder hinzulegen und sich Zeit zum Nachdenken und Entspannen zu nehmen. (Jonas Leichsenring und Hannah Kretzschmar)
Back to Top